Der Kleine Rote Fisch war richtig müde, denn der Schultag war lang und anstrengend gewesen. Oberstudienrat Klein-Tuemmler hatte stundenlang über ein besonders langweiliges Thema – alle Gründe für das Fehlen von Literatur beim Phytoplankton – doziert.
Anschließend hatte der Turnlehrer, Herr Fliegendfisch,versucht, den Kleinen Fischen beizubringen, wie man aus dem Wasser springt und durch die Luft segelt. Der einzige, dem das gelang, war der Sohn des Turnlehrers. Alle anderen waren nicht einmal imstande gewesen, sich vollständig aus dem Wasser hinaus zu katapultieren, auch wenn sie sich noch so anstrengten. Mit einem Wort, der Kleine Rote Fisch war vollständig erschöpft.
Das ausgezeichnete Algenragout, mit dem seine Mutter ihn empfing, tröstete ihn wohl ein wenig, aber sein „Algen, super, endlich wieder Algen!“, klang recht schwach. Eben da kam auch Papa Rotfisch nach Hause: „Guten Tag, meine Liebe! Hallo, mein Großer! Stellt euch vor, was mir heute passiert ist! Ich machte meine Runde am Nord-Ost- Graben, wo, wie ihr ja wisst, eigentlich nur Korallen und Schwämme leben. Ich war gerade dabei, eine herumwandernde Krabbe zu befragen, als ich eine Gestalt erblickte, die mir verdächtig vorkam.
„War sie gefährlich?“, unterbrach ihn der Kleine Rote Fisch, aber Papa Rotfisch erzählte unbeirrt weiter: „Ich schwamm näher heran, denn die Art, wie die Fremde sich bewegte, ein Tempo vorwärts, dann wieder zurück, dann wieder vor und so weiter, kam mir doch recht seltsam vor. Aber sobald ich nah genug dran war, habe ich erkannt, wer da meinen Verdacht erregt hatte. Stellt euch vor, es war die kleine Aalin, der wir bei unserem Ausflug in die Rhône begegnet sind!“
„Das ist ja toll!“ meinte Mama Rotfisch. „Und was macht die hier bei uns am Schönen Bunten Riff?“
„Das hat sie mir erklärt.“ antwortete Papa Rotfisch. „Seit unserer Begegnung hat sie versucht, sich an das Meerwasser zu gewöhnen. Könnt ihr euch erinnern, die Forelle hat uns erzählt, dass Aale das können und offenbar ist es der Kleinen gelungen. Ich habe sie eingeladen, uns morgen zu besuchen.“
„Echt cool, Papa!“ sagte der Kleine Rote Fisch, aber seine Stimme klang schon recht schwach.
„Ab ins Bett, Großer!“ befahl daher Mama Rotfisch und der Kleine Rotfisch ging noch rasch Zähneputzen und schlief dann sehr bald ein.
Sobald Papa Rotfisch sicher war, dass sein Sohn schlief, sagte er zu seiner Frau: „Ich wollte den Kleinen nicht beunruhigen, aber das Aalmädchen hat mir von einer seltsamen Beobachtung erzählt, die sie gemacht hat. Wie es scheint, schwimmen seit einigen Tagen zwei große Haie um unser Riff herum und das Äälchen meint, sie verhalten sich, als ob sie nicht bemerkt werden wollten. Ich frage mich, was die hier zu suchen haben.“
„Das ist in der Tat besorgniserregend.“ Meinte Mama Rotfisch. „Mit den Haien kann man gar nicht vorsichtig genug sein. Aber vielleicht warten sie nur, dass ein Heringsschwarm vorbeizieht. Es ist ja bald wieder die Zeit für deren jährliche Wanderung.“
„Vielleicht hast du Recht,“ überlegte Papa Rotfisch, „vielleicht aber auch nicht. Ich bleibe jedenfalls wachsam und werde morgen auch den Bürgermeister informieren.“ Schließlich gingen auch sie zu Bett.
Am nächsten Morgen bereitete Papa Rotfisch die Pausenalgen für seinen Sohn vor und schwamm dann direkt zum Mondfisch, dem Bürgermeister des Schönen Bunten Riffs.
„Guten Morgen, mein getreuer Untert … , hm, will sagen, lieber Mitbürger Wachtmeister, was verschafft mir das Vergnügen? Kommen sie nur, um mich zu bewundern oder hat ihr Besuch noch andere Gründe?“
„Guten Morgen, Herr Bürgermeister.“ antwortete Papa Rotfisch und erzählte dem Bürgermeister von seinen Befürchtungen. Dieser nahm das zwar zur Kenntnis, bemerkte aber bloß: „Bleiben sie wachsam, guter Mann!“ Papa Rotfisch hatte also seine Pflicht der Obrigkeit gegenüber erfüllt, was die Lösung des Hai-Problems betraf, würde er aber offenkundig auf sich allein gestellt sein.
Die Ankunft des Aalmädchens lenkte ihn ein wenig von seinen Sorgen ab. Der Kleine Rote Fisch hatte bereits die Kleine Weiße Fischin und den Kleinen Blauen Fisch verständigt, und nun warteten alle drei bei Familie Rotfisch auf ihren Besuch. Das Aalmädchen erzählte noch einmal, wie es geschafft hatte, im Salzwasser ebenso gut atmen zu können wie im Süßwasser
und wurde daraufhin von der Kleinen Weißen Fischin scherzhaft „Marinierte Aalin“ genannt.
Die Kinder baten sehr bald schon um Erlaubnis, bei der kleinen Insel, die dem Graben vorgelagert war, spielen zu dürfen. Papa Rotfisch beschloss in der Zwischenzeit den Teil des Riffs zu untersuchen, wo die Haie gesichtet worden waren und die Kleinen Fische machten sich ihrerseits zu ihrem Ziel auf.
Die Kinder spielten besonders gerne bei der kleinen Insel. Dort konnte man die interessantesten Dinge finden, meist waren es Gegenstände, die die Menschen verloren hatten. Die kamen nämlich von Zeit zu Zeit auf ihren lauten Flössen – ihren unanständig lauten Flössen, wie Papa Rotfisch zu sagen pflegte – um dem Schönen Bunten Riff einen Besuch abzustatten.
Eines dieser Flösse hatte offenbar eine Kiste mit Quitten verloren, die Kiste war wohl bei dem Sturz geborsten und die Früchte türmten sich auf dem Meeresboden auf. Neugierig schwammen die Kleinen Fische näher an ihre Entdeckung heran.
„Die duften ja fast so gut wie Algen!“ bemerkte der Kleine Rote Fisch und die marinierte Aalin, die ja in der Nähe einer Menschenstadt wohnte, bemerkte: „Die kenn ich, die Menschen machen eine Art Käse daraus und essen ihn.“
„Vielleicht könnten wir mit den Früchten Ball spielen.“ überlegte der Kleine Blaue Fisch, als plötzlich die Kleine Weiße Fischin ausrief: „Habt ihr ihn auch gesehen? Dort, hinter der Insel! Ich glaub, dort ist ein Hai!“
„Sind Haie denn gefährlich? » fragte das Aalmädchen. „Ich habe nämlich schon welche gesehen und habe es auch deinem Papa erzählt und der wirkte daraufhin recht besorgt. Ich wusste bis jetzt nur, dass sie groß sind, aber nicht mehr.“ Der Kleine Rote Fisch antwortete ihr lachend: „Die sind irrsinnig gefährlich! Viel gefährlicher als die Hechte in eurem Fluss und sie haben mehrere Reihen riesiger Zähne. Kommt schnell, wenn du sagst, dass sich Papa dafür interessiert hat, müssen wir es ihm so rasch wie möglich sagen.“
Als Papa Rotfisch die Nachricht hörte, war er äußerst beunruhigt.
„Ich habe auch auf der anderen Seite des Riffs Haie gesehen.“ Sagte er. „Das bedeutet nichts Gutes. Ich rufe die Bürgerwehr zusammen und ihr, Kinder, geht alle Bewohner warnen. Sagt ihnen, sie sollen in ihren Höhlen bleiben, bis ich Entwarnung gebe.“
Die Kleinen Fische führten die Anordnungen aus und Papa Rotfisch blies Alarm. Die Bürgerwehr bestand aus einem Dutzend Fische und Krustentiere, die sich freiwillig für diese Aufgabe gemeldet hatten und einmal im Monat zu ihren Übungen zusammenkamen. Als alle auf dem Hauptplatz versammelt waren, erklärte Papa Rotfisch, um welche Gefahr es sich handelte.
„Übertragt mir das Kommando!“ rief der Napoleonfisch. „Ich werde euch alle zum Ruhm führen!“, aber niemand beachtete ihn. „Gegen eine Gruppe von Haien sind wir ziemlich machtlos“, meinte eine Languste und Herr Krake fügte hinzu: „Das stimmt und ich muss es ja wissen. Schließlich habe ich einen gefangen in meiner Höhle sitzen.“
„Natürlich, das ist es!“ entfuhr es Papa Rotfisch. „Sie sind gekommen, um den Tigerhai zu befreien. Der ist im Augenblick unbewacht, sowohl der Krake als auch die Delphine sind ja hier. Wir müssen schnellstens zur Höhle des Kraken.“
„Geht’s noch!“ schimpfte der Krake. „Ich komm’ hierher und was wird jetzt von mir verlangt? Dass ich wieder heimgehe. Das hätte euch doch früher einfallen können …“ Dennoch folgte er den anderen und tatsächlich: die Haie hatten seine Abwesenheit ausgenützt, um in die Höhle des Kraken einzudringen und die Stäbe am Gefängnis des Tigerhais aufzubrechen.
„Hahaaa!“ lachte dieser. „Ich wusste, dass ihr mich nicht lange würdet festhalten können.“ Sprach es und wandte sich, von den übrigen Haien gefolgt, dem Ozean zu. Doch plötzlich schien ihm noch etwas einzufallen und er fragte einen der Haie: „Wo ist eigentlich der Thun?“
„Er wollte nicht mitkommen“, antwortete der Hai. „Er hat gemeint, in der Höhle des Kraken ist es immer schön warm und die Algen sind auch nirgendwo so gut wie hier. Er wünscht uns alles Gute und verspricht, unseren Plan, die Sandbank noch einmal zu überfallen, nicht zu verraten.“
„Halt dein blödes Maul!“ brüllte der Tigerhai wütend. „Alle können uns hören. Nur gut, dass du nicht auch noch dazu gesagt hast, dass
der Überfall nächsten Montag um dreizehn Uhr stattfinden soll! Nichts wie weg hier!“
Währenddessen hatten die Delphine unbemerkt die Pfeiffsignale ausgesendet, mit denen sie sich mit ihren Artgenossen auch über große Entfernung hinweg verständigten, und als die Haie das Riff verlassen wollten, tauchte eine ganze Schar verschieden- artigster Delphine auf. An der Spitze schwammen große graue Delphine und einer von ihnen wandte sich an die Haie: „Wo wollt ihr hin, Freunde? Soviel wir wissen, ist Herr Tigerhai ein Gefangener und soll es auch bleiben, habe ich recht?“
„Ganz recht!“ stimmte Papa Rotfisch zu. „Sie sind nach wie vor unter der Anklage des Bankraubs in Haft.“ Und die Kleine Weiße Fischin fügte hinzu: „Außerdem wissen wir, dass sie die Bank noch einmal überfallen wollen und zwar nächsten Montag um ein Uhr Mittag!“
„Das ist Hexerei!“ schrie der Tigerhai außer sich vor Wut.
„Wie könnt ihr das wissen? Habt ihr das gehört, Kumpels? Hier sind unsere größten Geheimnisse nicht mehr sicher, sogar die Kinder kennen sie. Wir müssen weg von hier. Mir nach“
Damit machte der Tigerhai kehrt und ergriff, von seinen Komplizen gefolgt, so schnell er konnte, die Flucht. Die Delphine wollten ihm nach, aber Papa Rotfisch hielt sie auf: „Lasst ihn schwimmen. Es ist gar nicht schlecht, wenn wir ihn los sind. Den sehen wir sobald nicht wieder und wir ersparen uns, ihn auf Gemeindekosten aushalten zu müssen. Und vielen Dank noch für die Unterstützung, und auch Dir, kleine Aalin. Habt ihr Lust auf einen Algensaft?“
Die Delphine nahmen die Einladung gerne an, und so schwammen die Mitglieder der Bürgerwehr und die Delphine zur „Tollkühnen Seeschnecke“, wo Papa Rotfisch eine Runde Algensaft auf Kosten des Bürgermeisters bestellte. Dieser war damit einverstanden, nachdem der Wachtmeister Rotfisch allgemein bekannt gemacht hatte, dass die Situation nur dank der umsichtigen Maßnahmen von Bürgermeister Mondfisch gerettet werden konnte. Zum Kleinen Roten Fisch gewandt bat er:
„Kannst du bitte mit deinen Freunden zu den Höhlen schwimmen und den Bewohnern sagen, dass die Gefahr gebannt ist. Danach kommt ihr zurück und bekommt einen extragroßen Algensaft.“
Die Kleinen Fische erledigten voll Stolz ihre Aufgabe und ließen sich anschließend ihren Saft und die Algenbonbons, die die Kneipenwirte noch zusätzlich spendiert hatten, schmecken. Währenddessen hatte Papa Rotfisch den Thun aufgefordert, das Gefängnis zu verlassen, das ja schließlich kein Hotel war. Nachdem der Tigerhai fort war, bestand kein Grund mehr, seinen vertrottelten Gefolgsmann hinter Gittern zu belassen.
Papa Rotfisch trank noch ein Glas Algensaft und begab sich danach mit dem Kleinen Roten Fisch nach Hause, nicht ohne zuvor noch den Kleinen Blauen Fisch, die Kleine Weiße Fischin und die Marinierte Aalin zu deren Eltern zurückzuschicken.
„Algen! Endlich wieder Algen!“, gab es auch zum Abendessen und, nachdem sein Papa ihm seine tägliche Gute-Nacht-Geschichte erzählt hatte, schlief er ein und träumte vom entsetzten Tigerhai, den die Magie der Kleinen Weißen Fischin in die Flucht
geschlagen hatte.
© 2017 Olivier Fuchs – http://www.derkleinerotefisch.de